Humboldtschule zu Erfurt 1879 – 2009
Geschrieben von Volker Freche / Jürgen Zerull   
04. 09. 2008

Humboldtschule zu Erfurt 1879 – 2009
130 Jahre naturwissenschaftliche Bildung
Festveranstaltung am 17. April 2009 im Rathaus zu Erfurt

Erfurt in der Mitte des 19. Jahrhunderts war gekennzeichnet von einem wirtschaftlichen Aufschwung und der allmählichen Entwicklung zu einer Industriestadt mit entsprechender ökonomischer und sozialer Struktur. Zwar war Erfurt, historische gesehen, die „Wiege“ des Erwerbsgartenbaus nach Christian Reichert, und um die Wende zum 20. Jahrhundert arbeitete fast die Hälfte der Erfurter Bevölkerung im Gartenbau, doch erste Industriebetriebe hatten bereits Fuß gefasst und forderten gut ausgebildete Junge Leute für technische und naturwissenschaftlich orientierte Tätigkeiten.
In diesem historischen Zeitabschnitt veränderten sich auch die Schulverhältnisse.

Als die Schule am 17. April 1879 als höhere Bürgerschule gegründet wurde und in das Gebäude der Erfurter „Alten Universität“ einzog, lag die Zeit des Absolutismus in Preußen gerade erst 3 Jahrzehnte zurück.
Der Geist starker Autorität und strenger Zucht prägten deshalb noch das Schulleben, und Beengtheit sowie schlecht ausgestattete düstere Räume kennzeichneten die materiellen Voraussetzungen.

Altes Schulhaus

 

Nach Jahrzehnten dieser für das schulische Lernen hinderlichen Missstände erfolgte endlich der Umzug in ein neu fertig gestelltes, architektonisch reizvolles, ausstattungsseitig hervorragendes Schulgebäude, welches am 20. Oktober 1909 als die „Städtische Oberrealschule“ seiner Bestimmung übergeben wurde.

Oberrealschule

Oberrealschule

 

Diese neue Schule, ein beispielhafter Schulneubau in Erfurt, verfügte über auch im heutigen Vergleich exzellente grundlegende Ausstattungen für die naturwissenschaftlichen Fächer, eine Sternwarte, Werkstätten wie zum Beispiel Tischlerei, Schlosserei und Schmiede, eine Sporthalle mit entsprechenden Geräten zur Körperertüchtigung, eine Bücherei sowie als Prunkstück die große Aula mit Konzertflügel und Orgel.

Turnhalle

Turnhalle

 Aula

Aula

 

Ein bedeutendes Ereignis war die 50-Jahr-Feier der Städtischen Oberrealschule am 17. April 1929 mit der folgenden Namensverleihung „Humboldt – Schule“, in Würdigung der Lebensarbeit der Brüder Wilhelm von Humboldt als Sprachforscher, Philosoph, Bildungsreformer, Politiker und Staatsmann und Alexander von Humboldt, als Multigenie auf dem Gebiet der Naturwissenschaften und als Forschungsreisender.

Stets war die Schulgeschichte in Deutschland zu allen historischen Zeiträumen geprägt als Spiegelbild der jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Machtverhältnisse und der daran orientierten Lerninhalte.

Am 19. Februar 1945 wurde die Humboldt-Schule bis auf den Ostflügel durch einen Bombenagriff völlig zerstört und eine Reihe von Schülern und Lehrern fanden dabei den Tod.

Zerstörtes Hauptgebäude mit Sternwarte, Ansicht östlicher Gebäudeteil

Zerstörtes Hauptgebäude mit Sternwarte, Ansicht östlicher Gebäudeteil

 Zerstörte Humboldt Schule

Zerstörte Humboldt Schule

 

Der noch in großen Teilen erhalten gebliebene Ostflügel wurde in den darauf folgenden Jahren wieder aufgebaut und für die Humboldtianer zur neuen Heimstatt des Lernens.

Mit der so genannten Wende, also der Wiedervereinigung der deutschen Staaten im Jahre 1989 wurde die Humboldtschule in ihrer bisherigen Form als naturwissenschaftliche Bildungsstätte zur Erreichung des Abiturs nicht mehr weiter geführt, die Einrichtungsgegenstände, Lehrmaterialien, Bücher und Modelle wurden größtenteils vernichtet.
Ab 1991 wurde die Schule dann als Grundschule 9, Humboldt Schule, weitergeführt.

Blick auf die heutige Humboldtschule/Grundschule 9

Blick auf die heutige Humboldtschule/Grundschule 9

 Hofansicht

Hofansicht

 

Eine pädagogische Neuorientierung – weg vom vorwiegend religiös determinierten Lehrinhalt hin zur naturwissenschaftlich-sprachlich orientierten Bildung – erfolgte nach dem 2. Weltkrieg an der Humboldt Schule.
Im Mittelpunkt stand dabei mehr und mehr die Einführung und Durchsetzung moderner Lehr- und Lernmethoden und Wissensaneignung nach den Prinzipien von Wissenschaftlichkeit und Praxisorientiertheit. Die Erkenntnisse der Naturwissenschaften standen dabei im Vordergrund.
Die Lehrstoffvermittlung bezog sich in Folge dessen vorrangig auf die Unterrichtsfächer Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Geschichte, Erdkunde, Deutsch, Gegenwartskunde, Englisch, Latein, Französisch, Russisch, Musik und Turnen.
Experimentalunterricht in Chemie, Physik und Biologie bestimmten das Unterrichtsgeschehen.

Der Religionsunterricht wurde als rein private Angelegenheit der religiösen Gemeinschaften betrachtet und nicht mehr staatlich finanziert oder in den Lehrplan aufgenommen. Die konsequente Trennung von Kirche und Staat wurde dabei grundlegend vollzogen.

Fundierte Kenntnisse in den Naturwissenschaften, anwendungsbereites Wissen und Allgemeinbildung sowie die enge Verbindung des Unterrichts mit der Produktion in unterschiedlichen Betrieben, vorwiegend technischer Ausrichtung, kennzeichnen die Entwicklung der Humboldtschüler auf die Vorbereitung einer beruflichen Tätigkeit oder ein Studium an einer Fach- oder Hochschule bzw. Universität.
Gemäß den gesamtgesellschaftlichen Anforderungen wurde auch das Lehrprogramm der Humboldt Oberschule über Jahrzehnte unter Beachtung des berufsbezogenen Hintergrundes des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und der Errichtung eines leistungsfähigen Industriestaates ausgerichtet.
Diese Prinzipien der Lehrstoffvermittlung bestimmten über die Jahrzehnte des Bestehens der Humboldt Oberschule als Erweiterte Oberschule den Anspruch dieser Bildungseinrichtung bis zu ihrer Auflösung.

Viele der Absolventen waren Leistungsträger in den unterschiedlichsten Berufsfeldern geworden, die mit großem Engagement und praktischen sowie intellektuellen Fähigkeiten ihre Berufe ausübten.
Alle von ihnen verdanken nicht zuletzt der hervorragenden naturwissenschaftlichen Ausbildung an der Humboldt-Schule zu Erfurt ihren guten Start in eine berufliche Karriere.
Mit der Schließung der Erweiterten Humboldt-Oberschule, die, soweit die Informationen reichen, vor allen damit begründet wurde, dass eine an bundesdeutschen Maßstäben gemessene adäquate Ausbildung bis zum Abitur nicht mehr gegeben sei, wurde auch die Bedeutung naturwissenschaftlich-technisch orientierter Bildung in Frage gestellt und zu Gunsten wieder erstarkender mittelalterlicher religiöser Lehrinhalte verdrängt.
Heute suchen viele Unternehmen vergebens Naturwissenschaftler und Techniker, auch in der IT-Branche, und fordern vom Staat die Verbesserung der naturwissenschaftlichen und praxisorientierten Ausbildung bzw. als Ersatz dafür die Zulassung der Zuwanderung gut ausgebildeter Menschen aus anderen Ländern.
Es steht deshalb vor allen Dingen auch und gerade in Thüringen die bildungspolitische Frage zu beantworten, ob die gesellschaftlichen Aufgaben der Zukunft mehr mit dem Fach „Religion“ oder besser mit fundierter naturwissenschaftlicher Bildung erkannt bzw. gelöst werden können.

Die Erweiterte Humboldt Oberschule zu Erfurt, ihre naturwissenschaftlich orientierte Schulgeschichte und ihre Zeitdokumente bleiben deshalb heute nur noch als Erinnerungen an eine moderne und progressive Bildungsstätte mit hervorragenden Lehrern und ihren lebenstüchtigen Absolventen.

Es ist deshalb höchste Zeit, zum 130-jährigen Gründungsjubiläum an diese Bildungsstätte zu erinnern und ihr einen gebührenden öffentlichen Applaus zu gewähren.

 

Dazu rufen wir hiermit öffentlich auf.
Zum Aufruf

 

Letzte Aktualisierung ( 04. 09. 2008 )